Theaterwerkstatt Haus Urban, 23. 7. - 4. 8. 2002

Pavel Kohout: "So eine Liebe"



„Betrunken sein vom inneren Sprechen!“
Erinnerungen an den Theaterworkshop 2002 mit Jurij Vasiljev

(Fotos im Anschluss an diesen Artikel)



Aufwachen in einem niedrigen Raum mit viel Holz. In einem sehr einfachen Bett. Mit Menschen im Zimmer, die man erst tags zuvor kennengelernt hat. Die Treppe hinuntersteigen, immer noch vorsichtig. Aus dem Haus treten, in den idyllischen kleinen Innenhof, viele Blumen, alte Mauern, ein Holztisch und Bänke. Ein holpriger Weg nach hinten, über eine kleine Wiese, rechts der Obstgarten, links eine Lagerfeuerstelle, dahinter die Scheune. Oder etwas, das einmal eine Scheune war. Jetzt ist es das Theater. Die Luft ist klar und sauber, ruhig ist es hier, kein Straßenlärm weit und breit. Weit weg von der Welt fühle ich mich, als wäre ich in einem Gorki-Stück gelandet. Morgen in Trstenice.

Kennengelernt habe ich Jurij Vasiljev kurz vor Ostern 2001 in Schlaining in Österreich auf dem zweijährlich stattfindenden „Drama in Education“-Kongress. Atemmäßig vollkommen außer Gefecht gesetzt von einer gerade überstandenen Beinahe-Lungenentzündung war ich nicht Teilnehmerin, sondern „nur“ Beobachterin eines Eintagesworkshops, in dem er mit ca. 40 Menschen die Grundzüge seiner Trainingsmethode erprobte. Das machte mich neugierig, hatte ich doch den Eindruck, auf eine sehr emotionale, direkte Methode der Arbeit mit Stimme gestoßen zu sein, die ohne große Reflexion direkt auf die Verbindung von Körper und Empfindung zielt. Auf der Suche nach so etwas war ich schon länger.

Als Theaterpädagogin und Dramaturgin tätig, mit den unterschiedlichsten Zielgruppen, brauche ich eine Trainingsform, die tief genug geht, um sie gleichermaßen mit Schauspielstudenten wie mit begabten Amateuren verwenden zu können. Vor allem war ich auf der Suche nach einer Übungsmethode für Atem und Stimme, die an diesem oftmals angstbesetzten Thema mit Spaß und Sinnlichkeit arbeitet. Der eine Tag Beobachtung hatte eine Ahnung geweckt, dass ich bei Jurij fündig werden könnte, und ich entschloss mich, den elftägigen Theaterkurs bei ihm zu besuchen, der in einer Aufführung mündet.

Warum gleich den „langen“ Kurs? Nun ja, als Einstieg erschien er mir für mich persönlich als passend, denn ich brauche stets ein paar Tage, um zu begreifen und richtig aktiv mitzumachen, und dann noch ein paar Tage, um das Gelernte so zu verstehen, dass ich mir zutraue, es auch als Anleitende umzusetzen.

Der lange Kurs stellt sowohl Jurij als auch Tomas, seinen Übersetzer und Mitarbeiter, und besonders auch die TeilnehmerInnen vor eine besondere Herausforderung: in weniger als zwei Wochen ein Stück vollständig einzustudieren und als Abschluss im Rahmen des Festivals „Trstenicky Faun“ zur Aufführung zu bringen. Ein Ding der Unmöglichkeit, wie es scheint, und doch ging am 3. August 2002 „So eine Liebe“ von Pavel Kohout über die idyllische Scheunenbühne.

So viel zu Jurijs Theaterarbeit: für lange improvisatorische Suche nach den Figuren ist innerhalb der Proben in Trst?nice keine Zeit. Zwölf TeilnehmerInnen sind eine gerade noch verkraftbare Zahl für das Unterfangen einer aufführbaren Inszenierung, und sie wird in diesem Kurs auch nicht überschritten. Das Ziel ist, da wird mir jeder Theatermensch recht geben, nur mit guter Vorbereitung und straffer Zeitdisziplin erreichbar. Erstere war absolut gegeben: Jurij weiß, was er will. Er bringt eine klare Vorstellung davon mit, was er mit diesem Stück erzählen will, er hat eine deutliche Vorstellung von den Figuren, von der Nutzung des Raums und vom Verlauf der Aufführung. Als Spielerin macht es mir einerseits Spaß, Teil eines so durchdachten Ganzen zu sein, wo ein Zahnrad ins andere greifen muss; andererseits hätte ich mir oft mehr Freiraum gewünscht, um wirklich selbst an der Rolle arbeiten zu können, etwas entwickeln zu können, das so vielleicht noch nicht im Regiekonzept vorgesehen war.

Die Rücksicht auf die straffe Zeitstruktur bringt es mit sich, dass EIN Weg (und das ist naturgemäß Jurijs Weg) sehr geradlinig und ohne Umwege verfolgt werden muss. Seine intensive psychologische Untersuchung der Figuren hilft beim Spielen, weckt aber gleichzeitig auch die Sehnsucht nach dem Innehalten – stop sagen, durchatmen, etwas völlig Entgegengesetztes ausprobieren. Eine ECHTE Diskussion eröffnen anstelle von Dogma und ansatzweiser Begründung, ein künstlerisches Risiko eingehen, um die Tiefen der Figur auszuschöpfen und selbst mehr ein Teil des ganzen zu werden. Vor allem aber, um Neues zu entdecken, denn es gilt im Theater wie im Leben: vielleicht ist ja alles auch ganz anders.

Tschechows drei Schwestern wollten nach Moskau.
Bei mir ist im Moment die Sehnsucht nach Trstenice größer.
Der Ort ist ein guter Platz, um sich zu öffnen, Menschen kennenzulernen, den Alltag wegzuschicken und sich auf ganz Neues einzulassen.
Und in Jurij Vasiljevs Trainingsmethode bin ich tatsächlich fündig geworden – die Hoffnungen auf eine organische Verbindung zwischen Körper, Empfindung und Stimme wurden voll erfüllt. Nun steht die Erprobung in der eigenen beruflichen Praxis an, verbunden mit dem Wunsch – und das ist mit Sicherheit ein weiter Weg – das neu erfahrene Körper- und Selbstbewusstsein auch in den Alltag mitnehmen zu können. Und vor allem auch das Streben danach, die im Training erfahrene Intensität in die Probenarbeit hinüberzunehmen, wie es in Trst?nice wohl aufgrund der Kürze der Zeit nur manchmal gelang.

Immer wieder blitzt in Jurijs Arbeit, in einer Randbemerkung, einem Blick, einer Geste, diese Ahnung auf – dass seine Rollenarbeit in Wahrheit mehr Suche erlaubt, denn er schreibt ja auch in seinen Büchern, dass es um die Suche der Wahrheit der Rolle in uns selbst geht, und das ist eine Stanislavskijsche Denkrichtung, die zwar einen Regisseur mit Autorität und Sicherheit in der Schauspielerführung verlangt, dem man vertrauen kann, aber ganz bestimmt keinen, der alles vorgibt. Da bleibt in so kurzer Probenzeit der Wunsch danach, dass die Auseinandersetzung des Regisseurs mit seinen SchauspielerInnen aus seiner Vision eine gemeinsame machen könnte.

Gerade weil, und das sei betont, seine Vision eine starke ist, der man gerne folgt. Da bleiben viele Fragen, und – wieder – eine große Neugier auf mehr.
 

Sieglinde Roth, Theaterpädagogin und Dramaturgin in Graz (Österreich)

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